[Rezension] Als die Welt zerbrach

by - Dezember 23, 2022

(© Hörbuch Hamburg)

Als die Welt zerbrach* (Der Junge im gestreiften Pyjama #2) 
von John Boyne
Gelesen von Elisabeth Günther

Bewertung: ★★☆☆☆

Historical Fiction, Audiobook 
Spieldauer: 11 Stunden, 54 Minuten
Erscheinungsdatum: 27. Oktober 2022

Verlag: Hörbuch Hamburg, Osterwoldaudio

* Rezensionsexemplar von Netgalley. Danke an den Verlag.

Inhaltsangabe:
1946. Drei Jahre nach dem katastrophalen Ereignis, das ihre Familie zerriss, fliehen eine Mutter und ihre Tochter von Polen nach Paris. Blind vor Sorge und Schuldgefühlen begreifen sie nicht, wie schwer es ist, der Vergangenheit zu entkommen.

Fast achtzig Jahre später führt Gretel Fernsby in ihrem Londoner Villenviertel ein ruhiges Leben, Welten entfernt von der traumatischen Kindheit. Als eine junge Familie in die Wohnung unter ihr zieht, hofft sie, dass die eingespielte Hausgemeinschaft nicht aus dem Gleichgewicht gerät. Doch der neunjährige Henry weckt Erinnerungen, denen sie sich nicht stellen will.

Gretel steht plötzlich vor der Wahl zwischen ihrer eigenen und Henrys Sicherheit. Eine Wahl, der sie sich ganz ähnlich schon einmal gegenübersah. Damals wurde sie mit ihrer unentschuldbaren Entscheidung zur Mittäterin. Aber sollte sie jetzt eingreifen, riskiert sie, Geheimnisse zu enthüllen, die sie ein Leben lang gehütet hat …

Meine Meinung:

Es ist bereits viele Jahre her, seitdem ich "Der Junge im gestreiften Pyjama" zunächst als Film gesehen und später noch als Buch gelesen habe. Und das Ende hat mich damals so sprachlos und nachdenklich zurückgelassen, dass ich es bis heute nie vergessen konnte. Die Geschichte war aber in sich abgeschlossen, sodass ich eigentlich nicht auf eine Fortsetzung gewartet habe. Trotzdem hat es mich neugierig gemacht, was der Autor denn noch zu sagen hat und habe mich deshalb spontan dazu entschlossen, das Hörbuch anzuhören.

Die Fortsetzung dreht sich vordergründig um das Leben nach dem Zweiten Weltkrieg und fokussiert sich dabei vor allem auf Gretel Fernsby, die Schwester von Bruno, der im Vorgänger ums Leben gekommen ist.
Doch Gretel hat nicht nur den Tod ihres Bruders zu verarbeiten, sondern vor allem der Umstand, dass sie selbst als 10-jähriges Kind einer Familie von Nazis angehört hat, die am Holocaust mitbeteiligt war. Gretel versucht nach dem Kriegsende durch eine Flucht ins Ausland und weitere Umzüge in andere Länder, ihrer Schuld zu entkommen, muss jedoch jedes Mal feststellen, dass diese Strategie nur mässig erfolgreich ist. Als 90-jährige, wird sie schliesslich erneut von ihrer Vergangenheit eingeholt und muss sich ihr ein für alle Mal stellen...

Ich muss leider gestehen, dass ich richtig Mühe hatte, einen Zugang zum Plot und den Charakteren zu finden. Das lag einerseits daran, dass in meinen Augen gefühlt nichts Relevantes passiert ist, das dieser Fortsetzung irgendeine Daseinsberechtigung geben würde, andererseits aber auch daran, dass ich Gretel als Protagonistin einfach furchtbar unsympathisch gefunden habe.
Der Autor versucht das Thema Schuld als Aufhänger und roten Faden für sein Buch nutzen, doch die Umsetzung ist in meinen Augen bedauerlicherweise misslungen. Ich hatte den Eindruck, dass es nicht Schuldgefühle waren, die Gretel zu den meisten ihrer Lebensentscheidungen getrieben hat, sondern vielmehr Scham. Scham dafür, für welche abscheulichen Gräueltaten ihre Familie verantwortlich ist. Und das hat sich darin gezeigt, dass sie (bis auf den Schluss, als sie 90 Jahre alt war), keinerlei Verantwortung dafür übernommen hat, was ihre Nazi-Familie angerichtet hat. Stattdessen verheimlicht sie ihre Identität, ändert ihren Nachnamen und versucht im Ausland eine andere Person zu sein, die frei von jeglicher Schuld ist, für die ihre wahre Identität stehen würde. Und dieses Verheimlichen ist für mich eher ein Indikator dafür, dass sie sich für ihr wahres Ich geschämt hat.
Ich will nicht sagen, dass sie selbst eine Täterin ist, denn sie war zum Zeitpunkt des Zweiten Weltkrieges erst um die zehn Jahre alt. Und ich glaube ihr auch, dass sie das Ausmass des Holocausts - an dem ihr Vater mitbeteiligt gewesen war – nicht einschätzen konnte, geschweige denn, etwas dagegen ausrichten konnte. Aber gerade deshalb hätte ich mir erhofft, dass sie als Erwachsene stellvertretend Wiedergutmachung leistet und sich kritisch mit ihrer Vergangenheit auseinandersetzt, statt von allem davonzulaufen und zu vertuschen, dass sie von einer Familie von Nazis abstammt.

Erschwerend kommt hinzu, dass ich erst beim Hören dieser Fortsetzung Recherche zum Buch betrieben habe und deshalb darauf aufmerksam geworden bin, dass es schon um den Vorgänger viele Kontroversen gegeben hat. Sogar das Auschwitz Museum hat sich damals öffentlich dagegen ausgesprochen, dass "Der Junge im gestreiften Pyjama" gelesen werden soll, weil der Autor im Buch viele Sachverhalte falsch darstellt. Und enttäuschenderweise hat auch der Autor (ähnlich wie seine Protagonistin in dieser Fortsetzung) keine Verantwortung für seine Fehler übernommen, sondern die Kritik mit der Argumentation, dass seine Bücher "ja bloss Fiktion wären" abgewinkt. Und das hat Boyne unglaublich unsensibel und unsympathisch erscheinen lassen und natürlich meine Meinung während des Hörens dieser Fortsetzung zusätzlich negativ beeinflusst.
Man merkt allerdings, dass der Autor versucht, einige seiner falsch dargestellten Sachverhalte in der Fortsetzung nachträglich richtigzustellen, aber das war leider nur ein Tropfen auf den heissen Stein. Viel besser wäre es gewesen, wenn er diese Fortsetzung gar nicht erst geschrieben hätte.

Positiv hervorzuheben bleibt aber die Sprecherin, die das Zuhören sehr angenehm gemacht hat.

Fazit:

Alles in allem kann ich leider nicht nachvollziehen, warum der Autor sich dazu entschlossen hat, eine Fortsetzung zu seinem eigentlich abgeschlossenen Vorgänger zu schreiben. Das Buch bringt nichts Neues zutage, das es irgendwie lesenswert macht. Es verstärkt viel eher die Kritik, dass das Buch eine Bühne für eine Tochter von Nazis bietet, für die durch das Schuld-Thema Mitgefühl erzeugt werden soll. Dieses Mitgefühl und diese "Bühne", die durch Literatur zum Holocaust geschaffen wird, sollte jedoch vielmehr den Opfern zustehen und nicht den Tätern (und ihren Nachkommen), sodass ich abschliessend enttäuschenderweise auch sagen muss, dass diese Fortsetzung etwas ist, dass die Welt nicht gebraucht hätte.

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2 Kommentare

  1. Hallo liebe Mel,

    ich habe Der Junge im gestreiften Pyjama nicht gelesen und auch die Verfilmung nicht angesehen. Mir war aber bewusst, dass es sich dabei um eine sehr berührende Geschichte handelt.

    Ich muss sagen,dass ich bei deinen ersten Worten zum Buch dachte, dass es sich hier um eine Frau mit einer sehr interessanten Geschichte handelt. Das hast du auch im weiteren Verlauf deiner Rezension bestätigt. Schade finde ich, dass du mit Gretel dann nicht wirklich warm geworden bist.

    Ich verstehe deine Beweggründe. Mir fällt es allerdings schwer, ein Urteil über die Protagonistin zu verhängen. Dass Gretel aus ihren Selbstvorwürfen nicht befreien konnte, finde ich verständlich. Sicherlich wäre der von dir aufgezeigte Weg eine Lösung gewesen. Aber nicht immer ist es einfach als Beteiligter einen objektiven Blick zu behalten. Gretel hat sich ja scheinbar geschämt und hatte nicht den Mut sich anderen gegenüber zu öffnen. Vielleicht wäre es ihr, wäre dem nicht so gewesen, gelungen ihr Verhalten weiter zu reflektieren. So hat sie Jahre mit der Schuld leben müssen.

    Schwierig.

    Liebe Grüße
    Tanja :o)

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    1. Ja, mit deinem Kommentar zu den Selbstvorwürfen und der Schuld hast du vermutlich recht. Ich nehme an, dass mich das mit der Scham und dem Vermeideverhalten so gestört hat, weil ich während des Hörens mitbekommen habe, wie sehr bereits das Vorgänger-Buch von jüdischen Leser:innen kritisiert wurde. Und da der Autor aller Kritik zum Trotz trotzdem eine Fortsetzung geschrieben hat und erneut einer Familie von Naziangehörigen eine Bühne bietet, hätte ich mir vermutlich gewünscht, dass die Protagonistin wenigstens etwas mehr Verantwortung für ihr Handeln bzw. das ihres Vaters übernimmt, statt sich ständig aus Scham rauszureden und bedeckt zu halten.

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