[Rezension] 600 Stunden aus Edwards Leben

by - Januar 30, 2023

(© AmazonCrossing)

600 Stunden aus Edwards Leben (Edward #1)
von Craig Lancaster

Bewertung: ★★★★☆

Contemporary Fiction, 313 Seiten
Erscheinungsdatum: 23. April 2013
Verlag: AmazonCrossing


Inhaltsangabe:
Edward Stanton, ein 39-jähriger Mann mit zwanghafter Persönlichkeitsstörung und Asperger-Syndrom, lebt allein und nach strengem Zeitplan in der Stadt seiner Kindheit in Montana. Zu seinen sorgsam ausgearbeiteten Routineabläufen gehört es, dass er täglich seine Aufwachzeit notiert, um die häufigste zu ermitteln (7:38 Uhr), seine Therapiesitzung niemals auch nur eine Sekunde vor dem vereinbarten Termin beginnt (10:00 Uhr) und jeden Abend um Punkt 22:00 Uhr eine Folge der alten Fernsehserie „Polizeibericht“ ansieht. Doch als eine alleinerziehende Mutter und ihr neunjähriger Sohn im Haus gegenüber einziehen, gerät nicht nur sein Zeitplan aus den Fugen. Im Verlauf der beschriebenen 600 Stunden freundet er sich mit den neuen Nachbarn an und rebelliert gegen die Einschränkungen durch seine Eltern und die Entfremdung von ihnen, insbesondere aber gegen die Demütigungen seines Vaters. Er erfährt durch die neue Freundschaft nicht nur Freude, sondern auch Leid, und muss entscheiden, ob er sich dennoch in die Welt vor seiner Tür hinauswagt oder sich wieder in die Einsamkeit zurückzieht.

Meine Meinung:

Dieses Buch lag seit 2015 auf meinem Ebook Reader und war somit das älteste Buch auf meinem SuB. Im Zuge meiner "SuB-Senioren"-Challenge, bin ich nun endlich dazu gekommen es zu lesen und war positiv überrascht, wie gut es mir gefallen hat.

Es wird die Geschichte von Edward Stanton erzählt, der unter einer Autismus-Spektrum-Störung leidet und dadurch einer akribisch genauen Tagesstruktur folgt, in der er trotz seiner Diagnose gut funktioniert. Diese Struktur wird jedoch eines Tages auf den Kopf gestellt, als er neue Nachbarn bekommt und eines Nachts in einer Heldenaktion in das Leben seiner neuen Nachbarn tritt. Dieses Ereignis soll jedoch nicht das einzige bleiben, das nicht nach "Plan" verläuft, denn kurze Zeit später ereilt Edward einen weiteren Schicksalsschlag, der eine grosse Veränderung bedeutet und ihn dadurch vor weitere Herausforderungen stellt...

Ich mag Bücher mit Protagonist:innen, die Ecken und Kanten haben und genau das ist bei Edward der Fall. Dadurch, dass die Geschichte aus seinen Augen erzählt wird und wir Einblicke in seine Gedankengänge bekommen, kann man nicht nur Edwards Beweggründe für seine Verhaltensweisen besser nachvollziehen, sondern erhält auch ein besseres Verständnis, wie seine Denkweise im Rahmen seiner ASS-Diagnose funktioniert.
Was mir auch gut gefallen hat, war der Umstand, dass Edward schon langjährig eine Therapie besucht und er dadurch einige Coping-Mechanismen erlernt hat, die ihm helfen, durch sein ASS nicht ständig in sozialen Situationen anzuecken. Er schreibt zum Beispiel jeden Abend "Beschwerdebriefe" an Personen aus seinem Umfeld, von denen er sich missverstanden oder ungerecht behandelt gefühlt hat und heftet diese in einem Ordner ab, was ihm letztendlich hilft, die vielen schwierigen sozialen Situationen in seinem Alltag zu bewältigen.
Die meisten Beschwerdebriefe waren an Edwards Vater adressiert, dessen Beziehung eine ganz besondere Rolle in der Geschichte einnimmt. Auch hier hat es mir besonders gut gefallen, wie vielschichtig und unperfekt Edwards Vater dargestellt wurde. Viele seiner Verhaltensweisen wirken im Laufe der Geschichte herzlos, doch wenn man genauer hinschaut, spürt man trotz allem immer eine Fürsorge und Liebe für seinen Sohn heraus, die er leider nur sehr ungeschickt zum Ausdruck bringt.

Was mir etwas weniger gut gefallen hat, war das Erzähltempo des Buches. Ich hatte den Eindruck, dass sich der Autor in den ersten beiden Dritteln des Buches viel Zeit für die Charakterisierung des Protagonisten und der wichtigsten Nebencharaktere nimmt und wir Edward nach und nach besser kennenlernen konnten. Dann passiert plötzlich ein unerwarteter Schicksalsschlag, der eine Reihe an Ereignissen ins Rollen bringt, die sehr gehetzt und konstruiert gewirkt haben. Edward konnte plötzlich viele seiner ASS-typischen Denk- und Verhaltensweise kritisch hinterfragen und ablegen, obschon sie so lange Teil seines Lebens waren. Und Auslöser dafür war eine äusserst kitschige Erkenntnis-Szene in seiner Therapie, in dem Edward plötzlich so vieles klar geworden ist. Tut mir leid, aber so funktioniert ASS nicht. Natürlich sind ASS-Betroffene lernfähig, aber nicht aufgrund eines einzelnen "Aha"-Momentes. Es hat sich so angefühlt, als hätte der Autor nach zwei Dritteln seines Plots das Gefühl gehabt, dass er nun möglichst rasch zu einem Ende kommen muss.
Ein weiterer Kritikpunkt war für mich die Fernsehserie "Polizeibericht", die in Edwards Leben eine wichtige Rolle spielt. Edward ist ein grosser Fan dieser Serie und schaut sich jeden Abend eine Folge an. Für uns Leser:innen bedeutet das, dass jedes Kapitel (das jeweils einen Tag in Edwards Leben abbildet) mit einer ausführlichen Beschreibung der Handlung einer Folge endet, die er sich gerade angesehen hat. Obschon ich die Intention dahinter verstehen kann (und am Ende auch erläutert wird, warum die Serie für Edward vermutlich eine so grosse Bedeutung hat), fand ich es für mich als Leserin äusserst ermüdend, redundant und schlichtweg langweilig, mir die Handlungen dieser fiktiven Serie jedes Mal durchlesen zu müssen, sodass ich sie irgendwann einfach übersprungen habe.

Das Ende war aber insgesamt zufriedenstellen und bringt Edwards Geschichte zu einem runden Abschluss (selbst wenn man über einige konstruierte Veränderungen hinwegsehen muss). Ich habe jedoch erst im Nachhinein gesehen, dass es sich nicht um ein Einzelbuch, sondern um einen Reihenauftakt einer Trilogie handelt. Da mein SuB bereits jetzt schon so gross ist und sich dieses Buch für mich in sich abgeschlossen anfühlt (und der dritte Band ohnehin nicht mehr ins Deutsche übersetzt wurde), werde ich die Fortsetzungen aber nicht mehr lesen.

Fazit:

Dieses Buch erzählt die Geschichte eines liebenswerten Protagonisten, der unter einer Autismus-Spektrum-Störung leidet und dadurch immer wieder vor schwierige Situationen gestellt wird. Dem Autor ist es (bis auf den letzten Drittel) gut gelungen, dieses Diagnosebild authentisch abzubilden, sodass ich Edward schnell in mein Herz geschlossen habe. Das Buch empfiehlt sich zum Beispiel für Fans, die auch "Ich, Eleanor Oliphant" mochten.

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2 Kommentare

  1. Hallo liebe Mel,

    wie auch du, lese ich auch gerne Geschichten, die meinen Erfahrungshorizont erweitern und die auch gerne mit Figuren mit Ecken und Kanten daherkommen.

    Du hattest mich also bereits mit dem Klappentext und mit dem Hinweis darauf, dass der Leser einem Protagonisten mit zwanghafter Persönlichkeitsstörung und Asperger-Syndrom durch die Geschichte begleiten darf. Scheinbar hat der Autor auch einige sehr interessante Wendungen und Verläufe in die Geschichte eingebaut.

    Was die Kritikpunkte bzgl. der ausführlichen Beschreibung der Serie oder auch die Wendung mit dem Schicksalsschlag betrifft, so kann ich diese gut nachvollziehen. Ich könnte mir vorstellen, dass ich hier sehr ähnlich beim Lesen empfunden hätte.

    Ich danke dir für diese sehr interessante Buchvorstellung. Auch, wenn ich alleine aufgrund der Kritikpunkte dieses Buch jetzt vielleicht nicht unbedingt kaufen würde, so fand ich es doch sehr spannend deine Rezension zu lesen.

    Ganz liebe Grüße
    Tanja :o)

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